Vom Leben in einer Postkarte

von Helge Thomas

© Helge Thomas

Wenn man sagt „Ich bin Heidelberger“, ist das mehr eine Haltung als eine geografische Verortung. Es bedeutet unter anderem, man ist vollkommen zufrieden mit sich und dem Status quo. Veränderungen finden nur in homöopathischen Dosierungen statt. Die Haltung gegenüber Neuem oder Nicht-Heidelbergern ist nicht feindlich, aber auch nicht wahnsinnig offen. Man zeigt sich schon mal gastfreundlich und großzügig, aber nicht zu lange. So richtig interessiert uns ja nicht einmal der nächste Stadtteil. Ein bisschen sind wir wie Berliner. Einzig unsere Stadt ist ein wenig kleiner und natürlich viel schöner.

In Heidelberg hat man Geld, redet aber nicht darüber. Man zahlt klaglos Immobilienpreise und Mieten, mit denen man zusammengenommen vermutlich den Hunger in der Welt ganz alleine besiegen könnte. Irritationen in dieser ebenso wohlhabenden wie friedlichen und ruhigen Oase am Neckar wie beispielsweise die Flüchtlingskrise bearbeiten wir ebenso ruhig wie professionell. Wie ein Unternehmen, das ein CSR-Programm aufsetzt. Man wählt grün. In der Weststadt kommt die Umweltpartei auf Werte, bei denen selbst die CSU neidisch wird. Dabei sind Heidelberger keine Ökos. Klar, man kauft im Bio-Supermarkt. Man fährt aber auch SUV. Beides aus Überzeugung und nur für sich selbst. Niemand will hier ernsthaft die Umwelt retten. Die Stadt ist voll von Konservativen und Neoliberalen, von denen die meisten ohne harte Arbeit zu Geld gekommen sind.

Wir leben nicht nur in einer Postkarte. Wir sind Teil dieses Stilllebens und wir lieben es. Kein Heidelberger schafft es, über eine der westlichen Neckarbrücken zu fahren, ohne den Kopf Richtung Schloss zu drehen und dabei mehr oder weniger laut zu seufzen. Je nach Tageslaune, Jahreszeit und Wetterlage. Ungefragt erzählen wir auch jedem, dass ja sogar Mark Twain das Schloss erwähnte. In seinem Buch „Ein Bummel durch Europa“ schreibt er 1878 Folgendes:

„Um gut zu wirken, muss eine Ruine den richtigen Standort haben. Diese hier hätte nicht günstiger gelegen sein können. Sie steht auf einer die Umgebung beherrschenden Höhe, sie ist in grünen Wäldern verborgen, um sie herum gibt es keinen ebenen Grund, sondern im Gegenteil bewaldete Terrassen, man blickt durch glänzende Blätter in tiefe Klüfte und Abgründe hinab, wo Dämmer herrscht und die Sonne nicht eindringen kann. Die Natur versteht es, eine Ruine zu schmücken, um die beste Wirkung zu erzielen.“

Das Beeindruckende aber ist, dass sich an dieser Beschreibung seit 1878 so gut wie nichts verändert hat. Allen voran das Stadtmarketing verwendet heute immer noch ganz ähnliche Texte, um die Stadt zu bewerben. Und die meisten handeln vom Schloss. So ist es vielleicht auch zu erklären, dass viele Heidelberger sich ein und dasselbe Event bis zu dreimal im Jahr anschauen. Die Schlossbeleuchtung. Sie erinnert mittels Pyrotechnik an die Zerstörung des Schlosses im Jahr 1693. Auch dieses Ereignis hat Mark Twain bereits 1878 erlebt und schreibt in seinem Buch:

„[…] mit atemberaubender Plötzlichkeit schossen eine Handvoll buntfarbiger Raketen inmitten eines Donnergeheuls aus den schwarzen Schlünden der Schlosstürme. Gleichzeitig zeichnete sich jede Einzelheit der gewaltigen Ruine gegen den Berg ab. Immer wieder schossen aus den Türmen dicke Bündel von Raketen in die Nacht, und der Himmel erstrahlte im Licht leuchtender Pfeile, die in den Zenith zischten, kurz verhielten und sich dann graziös nach unten bogen, um in einem wahren Springbrunnen von farbig sprühenden Funken zu bersten.“

Multikulti sind in Heidelberg eigentlich nur die Touristen. Und die bleiben oft nicht einmal eine Nacht. Kennt man die größtenteils seelen- und schmucklosen Hotels, kann man sie verstehen. Doch zurück zur Vielfalt. Außer den üblichen kulinarischen Angeboten von Döner über Sushi bis Pizza und Pasta ist in Heidelberg nichts mutikulturell. Heidelberger sind sozusagen Monokulturisten. Trotz der bezaubernden Architektur der im Zweiten Weltkrieg gänzlich unzerstörten Stadt ist fast jede Kneipe, jedes Restaurant ein Offenbarungseid in Sachen Kreativität. Na gut, könnte man sagen, wenn schon nicht multikulti, dann gibt es doch sicher Heidelberger Spezialitäten. Nope. Negativ. Keine einzige. Die heimische und die Systemgastronomie bieten halt an, was gerade verlangt wird.

Ich selbst wurde 1964 an den Ufern des Neckar in Heidelberg geboren. So erzähle ich das gerne. Die Wahrheit liegt wie so oft knapp daneben. Der Klapperstorch hatte sich in jener Nacht leider um ein paar Kilometer verflogen, und so landete ich an jenem kalten Januarmorgen um 2:10 Uhr Ortszeit in einer Privatklinik in Wiesloch. Immerhin Kreis Heidelberg. Mein Vater kannte den dortigen Arzt, und da Mutter alleine war … aber das führt zu weit. Gewohnt aber haben wir in Heidelberg. Also fast. Ziegelhausen wurde leider erst zehn Jahre nach meiner Geburt als Stadtteil eingemeindet.

 

© Helge Thomas

In „Ziggelle“, wie wir hier sagen, verbrachte ich nun also die ersten neun Jahre meines Lebens wohlbehütet. Nur einmal die Woche brachte mich die alte Neckarfähre in die Altstadt zur Klavierstunde. Sonst haben wir den Berg nur verlassen, wenn Verwandtenbesuche in der Stadt anstanden. Mein Onkel Werner wohnte in einem dieser schönen alten Herrenhäuser im Nobelstadtteil Neuenheim. Er hatte gut geheiratet. Und seine Frau, Tante Gertrud, wurde für mich als „Safttante“ unsterblich. Denn sie hatte immer frischen und eiskalten Apfelsaft im Kühlschrank. In den damals immer heißen und langen Heidelberger Sommern ein Hochgenuss. Zu Hause gab es meist nur „sauren Sprudel“, also Mineralwasser.

Mitte der 60er Jahre tat mein Vater das, was ich heute noch gerne tue. Er fing etwas ganz Neues an. Gerade noch Kinderarzt, wechselte er als Professor an die Musikhochschule in Freiburg. Anfangs pendelte er montags hin und freitags zurück. Dann kam der Umzug auch für Mutter, meine zwei Brüder und mich. Es sollte ein Abschied aus Heidelberg für die nächsten 26 Jahre werden. Dann erst kehrte ich endgültig zurück.

Heute noch habe ich keine ganz feste Bindung an die Stadt. Außer einem schwer zu beschreibenden Gefühl, das mir sagt „Hier gehörst du hin. Hier sind deine Wurzeln.“ Es befällt mich oft, wenn ich nach Hause komme und am Neckar entlangfahre. Also bin ich doch ein echter Heidelberger? Dafür würde sprechen, dass ich mich oft dabei ertappe, wie ich die fast unwirkliche Schönheit dieser Stadt zur Selbstdarstellung nutze. Dann poste ich einen romantischen Sonnenuntergang oder das Bild einer Altstadtgasse und texte dazu schlicht „Hometown“. Gibt zuverlässig Likes. Aber ist das wirklich meine Heimatstadt? Gibt es so etwas für mich, der ich schon in so vielen Städten gelebt habe? Klingt irgendwie, als wäre ich ein Matrose und Heidelberg mein Heimathafen. Doch so richtig richtig fühlt es sich nach wie vor nicht an.

Und doch ist es der Ort, an dem ich mich zu Hause fühle. Vielleicht liegt es am milden Klima und der großen Entspanntheit der Bewohner. Niemand hupt hier, wenn man eine Grünphase verschläft. Der ortsübliche Kommentar lautet „Jo, alla“. Im Gegensatz zu New York ist Heidelberg die Stadt, die niemals richtig wach wird. Anzüge tragen wir selten und die Pantoffeln behalten wir tagsüber sicherheitshalber an. Wer weiß, wo man gleich wieder chillen kann. Doch Vorsicht. Heidelberger sind nicht faul. Stress ist nur einfach nicht effektiv. Wenn das eine Stadt begriffen hat, dann meine. Ja meine. Irgendwie schon.

PS: Geschrieben habe ich diese Geschichte am Strand von Vodice in Koatien, wo meine Schwiegermutter ein Haus besitzt. Meine zweite Heimat, aber das ist eine andere Geschichte.

© Helge Thomas

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