Das böse Rot unter der Sonne oder wie ich zum Biertrinker wurde

Lieber Leserinnen und Leser,
damit Ihr meinen Text nachvollziehen könnt, ist es wichtig, dass Ihr wisst, wo ich diesen schreibe.
Ich befinde mich gerade in einem ultramodernen gläsernen Bauwerk direkt an einer sturmumtosten Steilküste eines sehr einsamen Teils von Schottland. Mein Laptop steht auf einem Konzertflügel aus Plexiglas. Im Zentrum des obszön großen Raums brennt ein Feuer in einem futuristischen Kamin, dessen amorpher Abzug in die Unendlichkeit zu verschwinden scheint. Die wundersam schöne Frau, die sich vor dem Kamin auf einer improvisierten Bettstatt aus reiner Seide räkelt, ist mir nicht bekannt. Doch ihre einladenden Gesten in Verbindung mit einem dämonischen Lächeln aus dem Gesicht eines Engels würden einen gläubigeren Mann als mich sofort nach der vatikanischen Notrufnummer für Exorzismus googeln lassen.
Na ja, das stimmt natürlich nicht. Ich sitze im ICE nach Berlin. Aber es könnte, aber … nein, es müsste so sein, ginge es nach meinem Verstand. Außerdem hatte ich mir fest vorgenommen, in meinem nächsten Text das Wort Exorzismus zu verwenden.
Kennen Sie noch Ekel Alfred? Für mich ist Alfred ein ganz besonderer Mensch. Ein Vorbild in jeder Hinsicht. Messerscharfe Sozialkritik und komplexe philosophische Betrachtungen in vollendeter Misanthropie. Ich habe immer für einen Bundespräsidenten dieses Formats gebetet. Einmal jedenfalls bestellt Alfred einen Wein. Weltgewandt und weit gereist tut er das mit unnachahmlicher Lässigkeit, nicht jedoch, ohne jedes mögliche Missverständnis hinsichtlich seines Expertentums im Keim zu ersticken.
„Vino rosso, bitte …, aber roten!“
Einfacher, treffender und schöner wurde niemals davor und danach Wein bestellt. Und damit beginnt meine Misere.
Bis vor ca. zehn Jahren war ich ein durchaus begabter Weintrinker. Und das schließt Häufigkeit, Menge und Qualität gleichermaßen ein. Da mir das Französische in (fast) jeder Hinsicht ohnehin nicht so nahe ist, habe ich mich auf Italien und Deutschland konzentriert. Und vor allem den roten Wein habe ich seinerzeit tief in meine arme Trinkerseele eingeschlossen. Dabei unterschied ich jedoch stets mit großer Konsequenz neben „rot“ und „weiß“ nur „schmeckt“ und „schmeckt nicht“. Der Rest war mir völlig schnuppe. Ein schön gemachter Tetrapak war mir natürlich auch wichtig. Ich nippte mal hier, schlürfte mal dort und schluckte sogar, wenn mir danach war. So hätte es eigentlich weitergehen können bis an mein seliges, rotnasiges Ende.
Hätte … hätten nicht finstere Mächte den Wein an sich gerissen. Die Snobs, die Hipster, egozentrierte Hedonisten mit übermächtigem Hang zum Perfektionismus und dem Sendebewusstsein eines anarchischen Lebensuntergangspredigers. Ab diesem Zeitpunkt durfte man keinen Rotwein mehr trinken, ohne zuvor und währenddessen Stunden – gefühlte Wochen – Weinkennergelaber über sich ergehen zu lassen.
„Kennst du schon den 2002 Haberegger?“ „Ja“, müsste ich eigentlich sagen … und „den habe ich 2003 schon in meinen Kühler geschüttet … die Karre ist übrigens daran gestorben.“ Aber ich sage: „Nein … ist der denn gut?“ „Gut?????“, und noch mal: „Gut?????“, schallt es dann gespielt jovial zurück. „Ein Werk Gottes!!!“ „Dieser Haberegger muss mit dem Teufel im Bunde sein!“ Der kleine Metaphysiker in mir prüft sofort, ob denn wirklich Gott ein vom Teufel gewolltes Werk verrichten würde. Und würde er das gut machen wollen? Aber ich befinde mich bereits längst in einer intellektuellen Duldungsstarre. Wie ein Pornostar bei der abschließenden Anal-Szene. Ja, komm … nimm mich. Übergieße mich mit deinem drittklassigen Google-Wissen. Aber ich werde nicht einknicken. Und ich werde nicht mit dir onanieren. Du bekommst kein „aha“ und kein „wie interessant“ und schon gar nicht stelle ich dir irgendeine Frage. Du wirst dich schneller totgelaufen haben als eine Springflut an einem gut gebauten Damm. Und dann sage ich in Gedenken an Loriot einfach nur „Wohlsein!“, und kippe das rote Gesöff in mich rein.
Schlimmer als der Weinkenner ist nur noch der „Weinkennerunddabeischnappermacher“. „Du kennst doch den Caprei, oder?“ Meine eigentliche Antwort wäre: „Klar … sehr geile Karre seinerzeit. Übrigens inspiriert vom Mustang Sportsroof … gabs sogar mit V8 … Body und Doyle vom MI5 wären ohne ihn keine Profis.“ Aber ich sage halt: „Ich glaube schon, warum?“ „Na, der kostet doch sonst immer so um die 15 Euro. Ich habe jetzt aber einen kleinen Importeur gefunden, der besorgt mir den glatt für 12,50. Allerdings muss ich immer eine ganze Palette abnehmen. Wird dann mit dem Lkw angeliefert. Aber wir könnten ja zusammen …“ Mein lautes, leicht genervtes Schnauben unterbricht den Schacherer. Prüfend blicke ich auf die Weinflasche und frage mich, ob die Rotweinflecken jemals wieder aus dem beigen, naturidentischen Doppelschlingenteppich von Bauhaus rausgehen. Welche Flecken? Die, die entstehen, wenn ich meinem gegenüber in einer ansatzlosen, für das menschliche Auge nicht sichtbaren Bewegung die Flasche über den sauber pomadierten und gekämmten Schädel ziehe. Wenn er wieder aufwacht, könnte ich ja sagen: „Du … also keine Ahnung … als du dich nach deinem Handy gebückt hast, ist die Flasche einfach vom Tisch … ganz schöne Sauerei hier … magst du ’n Aspirin?“ Oder ich ziehe das Ding einfach mir über den Schädel. Dann muss ich danach niemandem was erklären.
Tiefere Qual kann nur noch der „Warstduschonmalin…?“ bereiten. Denn hinter „Warst du eigentlich schon mal in Umbrien?“ lauert das weit geöffnete Tor zur Hölle. Ja, verdammt. Ich war schon in Umbrien. Mehrmals sogar. Ein guter Freund von mir lebt dort. Und dort trinken die Menschen Wein, wie man ihn trinken sollte. An jeder Straßenecke stehen die Dealer. Man kauft einen 5-Liter-Kanister Rot und – weil nur noch ein Roter da war – noch mal das Gleiche in Weiß. Dann setzt man sich auf eine Piazza (nein, nicht auf eine Pizza, das gibt Brandblasen am Hintern). Und dann trinkt man Wein. In großen Schlucken. Nicht ohne vorher lautstark anzustoßen, sich tief in die Augen zu schauen und ewige Freundschaft zu schwören. Und man philosophiert … man lacht … man streitet … man weint … und man weiß, dass alles irgendwann endet. Aber nicht heute. Verdammt noch mal … nicht heute! Heute sind wir Götter unter Göttern! Und wenn der erste Kanister leer ist, geht es übergangslos auf den zweiten. Woher die Plörre kommt? Wie der Scheiß-Winzer heißt? Welche Traube? Wie vergoren? Völlig bedeutungslos. Das Zeug schmeckt, und man behält auch nach dem zweiten Liter noch sein Augenlicht. Was zur Hölle will man mehr?
Aber ich sage: „Ja, ist aber schon ganz schön her“, … und dann rollt sie auf mich zu. Die Wortlawine der Bedeutungslosigkeit … Die Springflut des Unnützen … Die Manntränke der Langweile. „Ich war endlich mal … nur mit Gisela … Du kennst doch Gisela (Ich? Nein, zum Glück) … weil mein E-Type war endlich fertig restauriert … und dann sind wir ganz spontan …“ Ich will Drogen. Diazepam wird das Beste sein in dieser Situation. Bloß kein Speed. „Na ja, jedenfalls sind wir wohl irgendwo falsch abgebogen … und dann sind wir diese unglaublich malerische Straße lang gekommen …“ Brechen. Mein Körper will sich erbrechen. Nur durch reine Willenskraft kann ich meinen „Lächeln und Kopfnicken“-Automatismus aufrechterhalten. „Und da war dieses total verwunschene Hofgut … wie vor 500 Jahren … und dann kam der Winzer aus dem Haus … und hat uns eingeladen, sein Weingut zu besichtigen … Du glaubst nicht, was der uns alles gezeigt und erzählt hat.“ So. Ende. Aus. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. In meinem Geist steigt ein uralter toter Wikingerkrieger aus Walhalla herab und spricht zu mir: „Wenn du jemals wieder über Wein sprichst oder anderen dabei zuhörst, komme ich herab nach Midgard und zerhacke ein unschuldiges Eisbärenbaby.“ „Nein“, rufe ich. „Das darfst du nicht. Eisbärenbabys sind voll süß!“ Doch mit einer unmissverständlichen Geste bedeutet mir der Wikinger zu schweigen und verschwindet böse grinsend.
An diesem Abend wurde ich zum Biertrinker. Ich habe seitdem tatsächlich keinen Tropfen Wein mehr getrunken. Und sobald mich jemand nach meinen Getränkewünschen fragt, schießt es aus mir heraus: „Bier, bitte … bitte ein Bier … Weizen, wenn möglich … hell, wenn das geht … sonst dunkel … und gerne ohne Alkohol.“ Bloß jede Nachfrage und vor allem jede Erklärung vermeiden. Keine Ahnung, ob der Wikinger so richtig unterscheidet zwischen Wein und Bier.
Ich würde gerne wissen, wie vielen Eisbärenbabys ich schon das Leben gerettet habe. Das ist eigentlich ein gutes Gefühl. Ein bisschen schade ist das mit dem Wein schon. So ein tiefroter, schwerer, trockener … ist gut Leifson … ich höre ja schon auf … lass die Axt stecken.
Meine große Angst jedoch geht in Richtung der Craft-Bier-Bewegung. Ich bin mir sicher. Es wird nicht lange dauern, bis mir irgendein Hipster die Wahnsinnsgeschichte von Hopfen und Malz reinpressen will.
„Wohlsein!“