Bewegt euch! Der Weltkörper als dynamische Einheit

Oder: Wenn es eine Zukunft für alle geben soll, dann müssen wir endlich in Bewegung kommen.

Denn, wie sagt der Lateiner so schön (Vorsicht, gefährliches Halbwissen): „mens sana in corpore sano“.

Ich möchte mit euch einen Gedanken teilen, den ich hatte, als ich das erste Mal im Café oben im Berliner Fernsehturm am Alex saß. Das Wetter war sehr schön, die Sicht war außergewöhnlich gut und ich konnte meinen Blick weit über die Häuser und Straßen von Berlin schweifen lassen. Ich sah den Autos zu, und den S-Bahnen, den Zügen und Bussen und all den Menschen, die sich geschäftig ihren Weg durch diese große Stadt bahnten. „From a distance there is harmony“, textete einst Julie Gold, und sie muss dabei einen ähnlichen Blick auf die Welt gehabt haben wie ich vom Fernsehturm aus. Denn plötzlich erschien mir das ganze chaotische Gewusel da unten extrem übersichtlich, strukturiert und sinnvoll zu sein. Berlin, also die Welt, wirkte wie ein gewaltiger Körper oder wie ein riesiger Computer, in dem die Menschen sich als kleinste Daten- oder Informationseinheiten von einem Ort zum anderen bewegen oder bewegt werden.

Genau wie unser Blut ein buntes Gemisch aus verschiedenen Zellen darstellt, die den Körper mit lebenswichtigen Ressourcen versorgen, so sind wir Menschen tagtäglich unterwegs, um unsere Welt am Leben zu erhalten. Jeder von uns sorgt dafür, dass sie so ist, wie sie ist. Inwieweit wir das aus eigenem Antrieb tun, inwieweit wir gesteuert werden oder einfach unsere täglichen Routinen abspulen, mit welchen Informationen oder überlebenswichtigen Inhalten wir den Körper versorgen, ist alles Teil eines sehr komplexen Netzwerkes. Das Zusammenspiel all unserer täglichen Gedanken, Emotionen und Handlungen bildet das vitale Konstrukt, das unsere Welt ist. Und genauso wie in einem Körper ist keines dieser Vitalteilchen überflüssig oder obsolet. Die einen sammeln Informationen oder generieren neue, die andern werten sie aus, die einen produzieren, die anderen konsumieren, die einen produzieren Abfall, die anderen verwerten ihn, die einen gehen zur Schule, die anderen unterrichten und so weiter und sofort … alles gut also.

Aber irgendwie doch nicht, oder? Woher kommt dieser Klimawandel, woher kommen die Waffen, die Kriege am Leben erhalten, die wiederum Flüchtlingsströme produzieren. Woher kommt die schreiende Ungerechtigkeit und die Schere, die zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht? Es hat den Anschein, dass unsere Welt bedroht ist, dass unser Konstrukt von einem vitalen, gesunden Körper von innen heraus zerstört wird. Doch nehmen wir an, alle Zellen eines Körpers wären gesund, der innere und äußere Austausch in Harmonie und die Funktionen aller Organe ausgeglichen. Wie sollte dieser Organismus von innen heraus erkranken?

„Mens sana in corpore sano“ ‒ wenn aber die kleinsten Teilchen einfach nicht gesund sind, wenn in jedem einzelnen dieser Vitalstoffe was nicht stimmt, wenn alle diese kleinen Informationsboten einfach gestresst sind, was passiert dann mit dem Körper? Kurz: Liegt es vielleicht an dem ungesunden Lebenswandel von jedem Einzelnen von uns, dass es mit der Welt gerade nicht so gut läuft? Oder anders gesagt: Wenn wir alle auf unser eigenes körperliches, geistiges und seelisches Wohlbefinden achten würden, dann wäre wahrscheinlich der Weltkörper auch wieder gesund. Wenn das so einfach ist, was hindert uns daran?

Ich lebe zum Beispiel in Wiesbaden. Vor kurzem veröffentlichte Greenpeace eine Studie, in der die durchschnittliche Stickoxid(NO2)-Belastung in verschiedenen deutschen Großstädten gemessen wurde. Zur selben Zeit brachte auch das Bundesumweltamt seine aktuellen Messwerte heraus. Während bei der Greenpeace-Studie Wiesbaden den absoluten Spitzenplatz mit einer Durchschnittsbelastung von 120 µg belegte (was der dreifachen Dosis des Maximalwertes der WHO entspricht), rangierte bei den Messwerten des Bundesumweltamtes Wiesbaden immerhin noch in den Top Ten, neben Städten wie Stuttgart, Berlin und München. Aber während sich in Stuttgart eine engagierte Bürgerschaft mit Unterstützung der Lokalpolitik einigermaßen erfolgreich für Maßnahmen zur Verbesserung der Atemluft einsetzt, passiert in Wiesbaden … nichts. Rein gar nichts.

Was die Leute seither hier am meisten bewegt, ist die bange Frage, wie lange sie noch Diesel-Pkw fahren können und ab wann sie auf Benziner umsteigen müssen. Sie fahren täglich mit ihren SUVs quer durch die Stadt zur Arbeit, kaufen mehrfach in Plastik eingepacktes, vorproduziertes und konfektioniertes Essen voller fraglicher Inhaltsstoffe, und weil sie so einen Stress haben, um sich all das leisten zu können, müssen sie Alkohol trinken und rauchen, um wieder runterzukommen. Wenn es ihnen stattdessen wichtiger wäre, welche Luft sie hier atmen, von was sie sich ernähren oder dass sie ihren ökologischen Fußabdruck reduzieren, wäre die Stadt ein echtes Paradies.

Doch dafür müssten sie etwas ändern, sie müssten sich bewegen. Sie müssten sich vielleicht von ihren mühselig erworbenen oder ererbten Privilegien und Statussymbolen verabschieden. Sie müssten all die zur Routine gewordenen Gewohnheiten überdenken und eventuell sogar ablegen. Sie müssten moralische Verantwortung für ihr Denken und Handeln übernehmen. Doch aus irgendeinem Grund ‒ obwohl es eigentlich besser für sie wäre ‒ machen sie nichts.

Unsere Duldungsfähigkeit und Handlungsträgheit ‒ selbst wenn wir Menschen uns in einer ungesunden oder lebensfeindlichen Umgebung aufhalten, selbst wenn wir die schlechteste Luft Deutschlands atmen müssen – übersteigt unsere intellektuelle Einsicht bei weitem.

Vor kurzem las ich voller Bestürzung einen Artikel bei ZEIT-online mit dem Titel „Ich will Verbote“, in dem der Autor, der jünger ist als ich, den Wunsch artikuliert, die Politik solle uns doch bitte endlich per Gesetz dazu zwingen, uns zu bewegen. Wir wüssten zwar alle, so die Aussage des Artikels, dass unser Konsum unsere Luft verpestet, unser Wasser mit Mikroplastik vergiftet und die globale soziale Ungleichheit noch verstärkt, so dass wir also über kurz oder lang unsere Lebensgrundlage vernichten, aber wir wären nicht in der Lage, irgendetwas zu ändern. Zum einen, weil wir mit der Komplexität der Aufgabe überfordert sind, zum anderen geht es uns schlicht und einfach immer noch zu gut.

Aber sollen wir wirklich auf die Politik warten oder darauf, dass es uns eines Tages endlich schlechter geht?

Kein Mensch kann alleine die ungeheuren Aufgaben bewältigen, die vor uns liegen, damit diese Welt ein schöner, wohnlicher und gesunder Platz für uns Menschen bleibt. Aber man kann im Kleinen anfangen ‒ bei sich selbst, solange man noch Geld, Zeit und ausreichend Kraft hat, um sich zu bewegen. Denn so wie in der Homöopathie die in den Globuli oder Tropfen gespeicherten Informationen des Urstoffes eine Matrix bilden, die unseren Organismus daran erinnert, wie seine Zellen sich verhalten müssen, um mit einer Krise umzugehen, genau so sollte bei uns Menschen die intellektuelle Einsicht, schlicht das Gelernte wirken, um unser zukünftiges Handeln zu bestimmen. Genauso sollten wir mit dem momentanen Wissensstand genug Informationen haben, um loszulegen.

Und wenn sich dann jeder von uns ein bisschen bewegt, das ihm Machbare tut, um seiner Gesundheit, seinen moralischen Vorstellungen oder seiner intellektuellen Einsicht Genüge zu tun, dann kommt Bewegung in den Körper. Ob du vom Auto auf Car-Sharing, die Öffis oder aufs Fahrrad umsteigst, ob du verpackungsfrei einkaufst, ob du dich ehrenamtlich engagierst oder einen Flüchtling zum Abendessen einlädst, ob du spendest oder wählen gehst, ob du für Europa demonstrierst oder für eine saubere Umwelt, egal was immer du auch in Zukunft ändern wirst, es wird unsere Welt mit verändern. Und da, wie wir Physiker und Chemiker ja wissen, die Bewegung eines Teilchens die Bewegung der umgebenden Teilchen mit anregt, können wir davon ausgehen, dass, wie auch immer wir uns für unsere Zukunft engagieren, wir nicht allein damit sein werden.

Es gibt so viele tausende Ideen, die nur darauf warten, von uns in die Tat umgesetzt zu werden, um uns eine wunderschöne Zukunft zu bereiten und unserer Welt wieder Gesundheit, Frieden und Hoffnung zu schenken.

Packen wir’s an: Bewegen wir uns!

Für alle, die nicht genau wissen, was ich mit den tausend Ideen eigentlich meine, und nicht einmal eine davon kennen, weise ich gerne auf ein tolles Festival hin, auf dessen letztjähriger Ausgabe ich auch die Ehre hatte als Gastredner zu sprechen: reflecta.org ‒ rethink your world.

Für mehrere Großstädte hat reflecta auch bereits einen „Green City Guide“ herausgebracht.

Also für den ersten Anstupser oder noch mehr Anregung: Hingehen, inspirieren lassen, umsetzen!

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