Die Zeitreisende

Japan im Jahre 2070
Miyus Eltern waren Geschichtsfans und gaben ihr daher diesen Namen. Er bedeutet so viel wie „überlegener Geist“. Eigentlich heißt in Japan heute, im Jahr 2070, niemand mehr so. Überhaupt fällt Miyu mit ihrer besonderen Art immer wieder auf. So wurde sie jüngst zum wiederholten Male unter die Top-Kreativen der Unternehmensflüster:innen gekürt. Was vor fünfzig Jahren so genannte Agenturen waren, sind heute die Unternehmensflüster:innen. Alle repetitiven Aufgaben wie Platzierungen, Übersetzungen, einfache Online-Texte und Gestaltungen liegen längst in der Hand künstlicher Intelligenz. Aufgabe der Flüster:innen ist es, sich einzigartige, noch nie da gewesene Aktionen für Unternehmen auszudenken, damit diese in der großen Flut an Angeboten auffallen. Zwar konsumieren alle sehr bewusst, doch das Angebot bleibt unübersichtlich. Man muss auffallen. Miyus Aktionen sind bekannter und beliebter als Kunst-Performances. Sie ist unangepasst, überraschend, schrill, intelligent und niemals langweilig.
"Ich möchte ins gute, alte Europa zurückreisen."
Ihre Assistentin, Sakura, kann ein Lied davon singen. In fünf Minuten hat sie ihre tägliche Besprechung mit Miyu und befürchtet wieder einmal eine fast unlösbare Aufgabe. Miyu hat da so etwas angedeutet. Wie immer kommt Miyu gleich zur Sache und wird konkret: „Sakura, seit fünf Jahren gibt es ja nun diese Zeitreisekapseln. Ich möchte ins gute alte Europa zurückreisen und mir ansehen, wie die Leute früher das, was sie damals Marketing nannten, gemacht haben. Du hast doch Geschichte studiert. Was empfiehlst Du mir als Ort und Zeitraum?“
Sakura pfeift durch die Zähne, das würde alles übertreffen, was sie bislang zu lösen hatte. Glücklicherweise fällt ihr eine Geschichtspräsentation ihrer deutschen Kommilitonin aus Studientagen ein. Sakura fasst ihre Erinnerungen für Miyu so zusammen: „Vor genau 50 Jahren gab es eine Pandemie, die eine ganze Branche aufrüttelte. Die hatten früher immer riesige Veranstaltungen und Messen, wo sich hunderte oder tausende Menschen trafen. Da sind alle mit Flugzeugen aus der ganzen Welt angereist. Plötzlich durften die das alles nicht mehr. Von heute auf morgen war alles anders. Interessiert Dich das?“
„Flugzeuge? Die kenne ich nur aus dem Museum."
Miyu überlegt kurz und antwortet direkt: „Flugzeuge? Die kenne ich nur aus dem Museum. Das waren diese Klimakiller kurz vor der Katastrophe, als wir unser Verhalten komplett ändern mussten, oder? Klingt aber sehr interessant. Krisen und Umbrüche sind meine Spezialität, quasi kreative Urquellen. Diesen Zeitpunkt in der Geschichte wähle ich. Und wo gehe ich hin?“
Sakura tippt schon auf den Tisch, in dem der Rechner integriert ist: „Ich suche mal im Zeitreisearchiv. Man sagt, Berlin war damals so schick und voll im Trend. Und wer was auf sich hielt und zur Szene gehören wollte, hatte einen Vollbart. Also als Mann!“ Sie lacht kurz, um dann gleich wieder ernst zu werden. „Ich suche Dir eine passende Agentur mit vielen Vollbärtigen. Schau mal die hier, die heißen Yuna Events, das passt doch.“ Sakura überlegt kurz und fügt hinzu: „Du musst dir übrigens selbst ein Hotel vor Ort suchen und dort hinlaufen oder ein Taxi nehmen. Die hatten damals noch keine Kundenwunscherkennung mit Planung auf Basis von Prognosen. In zwei Tagen geht es los.“
Miyu spürt die Vorfreude auf das Neue. Um ihren Geist zu öffnen und flexibel zu halten, hat sie altertümliche Sprachen gelernt und spricht daher Französisch und Deutsch. Sie hatte zwar in Europa studiert, jedoch wird dort im öffentlichen Leben nur noch ein vereinfachtes Englisch gesprochen, nur im Privaten haben sich in einigen Gegenden wie Bayern die alten Sprachen erhalten. Jetzt konnte sie endlich ihr altes Sprachwissen auspacken, um sich vor Ort zu verständigen.
Berlin, 1993
Wer in der jungen Hauptstadt des vereinten Deutschlands eine Veranstaltung organisieren will, stößt früher oder später auf Andreas. Er betreibt nicht nur die aktuell angesagtesten Diskotheken und mehrere hippe Kneipen, sondern ist auch Inhaber einer der bekanntesten Event- und Messeagenturen Deutschlands. Parteien, Konzerne, Medienunternehmen – alle lassen ihre Veranstaltungen von ihm organisieren. Auf allen großen Messen, insbesondere auf der CeBIT, zeichnet Andreas‘ Agentur für mindestens ein Drittel der Stände und Auftritte verantwortlich. Selbstredend vor allem von den Großkonzernen. Geschäftlich äußerst erfolgreich lässt Andreas es auch privat gerne krachen. Er lebt auf großem Fuß. Hostessen, Kellnerinnen und schneidige Marketingverantwortliche verbringen gerne ihre Zeit mit ihm. Ursprünglich aus Stuttgart stammend hat er sich ein feines Hochdeutsch mit leichtem Berliner Einschlag zugelegt. Schließlich ist er als Schwabe ein Exot in Berlin und das soll keiner merken.
"Für immer jung wirken und für eine ganze Weile von der Bildfläche verschwinden, klingt mehr als attraktiv."
In jüngster Zeit leidet seine übliche Sorglosigkeit. Mit seinem neuesten Nachtclub hat er sich etwas übernommen. Er hatte darauf gewettet, dass Prenzlauer Berg das nächste Szeneviertel wird. Bislang lässt sich das schicke Publikum mit Geld jedoch nicht in seinem Nachtclub blicken und randalierende Jugendliche machen sich breit, trinken nur Bier und vertreiben alle anderen, die er dort sehen will. Zudem hat seine langjährige Freundin Wind von seinen Affären bekommen. Im Hinterzimmer seines neuen Nachtclubs leert er gerade eine Flasche Vodka, als sein alter Freund Fabian vorbeikommt. Fabian, der Wissenschaftler, mit einem Hang zu großen Ideen und zu großem Geld, das er an der Uni nicht findet. Er macht Andreas ein attraktives Angebot: „Ich habe einen Kühlraum entwickelt, um Menschen jung zu halten. Wärst Du bereit, für drei Jahrzehnte unterzutauchen? Du wirst danach für immer wie Anfang 30, also so wie jetzt aussehen. In der Zeit bis dahin kannst Du essen und lesen. Aber Du kannst niemanden treffen und keine elektronischen Geräte bei Dir haben, denn die funktionieren bei der Kälte nicht.“ Das ist Andreas‘ Chance. Für immer jung wirken und eine ganze Weile von der Bildfläche zu verschwinden, klingt mehr als attraktiv. Am nächsten Tag verabreden sich die beiden in einer abgeschiedenen Lagerhalle in Moabit, die Fabian seit langem präpariert hatte. Er hat Andreas ein Regal mit den Klassikern der Weltliteratur bereitgestellt, mehr würde er von der Welt während der nächsten Jahrzehnte nicht mitbekommen.
Berlin im Frühjahr 2020
Sören sitzt völlig verzweifelt in seiner Agentur. Ein Virus hat seine ganze Jahresplanung zerstört. Allein in den nächsten beiden Monaten hätten sie fünf Großveranstaltungen umgesetzt, mit jeweils 200 Tausend Euro Umsatz. Im Herbst standen große Messestände für mehrere Konzerne bei Industriemessen auf dem Plan. Und jetzt? Sind so gut wie alle seiner Leute in Kurzarbeit und er sitzt mit seinem Projektleiter da, trinkt bereits am Nachmittag Gin und sucht nach Lösungen.
Fabian, der Wissenschaftler, hatte Andreas die letzten Jahre täglich in seiner Klausur besucht, ihm Essen gebracht und über seine großen Pläne berichtet. Was sonst in der Welt so vor sich ging, dafür hatte er keinen Kopf. Nun ist es endlich soweit. Er hatte sein Patent eingereicht. Mit Andreas will er noch einen Werbefilm drehen und dann geht seine Verjüngungs-Kühlkammer in Serie. Andreas ist nach dem Werbefilm ein freier Mensch, ein über Sechzigjähriger mit dem Aussehen eines Dreißigjährigen. Was soll er tun? Warum nicht zur Adresse seiner ehemaligen Agentur gehen? Dort gibt es bestimmt ein paar nette Mädels, die einem erfahrenen, gutaussehenden, jung gebliebenen Mann nicht abgeneigt sein würden. Den jungen Kerlen dort würde er mit all seiner Erfahrung unter die Arme greifen. Schließlich war er lange der König der Veranstaltungen.
Sören ist sehr verwirrt, als es kurz nacheinander zweimal klingelt. Eine junge Japanerin behauptet, aus der Zukunft zu kommen. Und dieser schnieke Kerl mit dem leicht schwäbischen Zungenschlag (Sören hat einen eingebauten Schwaben-Radar, der in Berlin sinnvoll ist) macht ihn blöd an, warum er denn keine hübsche Empfangsdame hätte. Sowas brauche jede Agentur, die etwas auf sich halte. Kommt der vom Mond? Sind das bereits Alkoholerscheinungen oder am Ende dieser verdammte Virus?
Miyu spürt seine Verunsicherung und redet nun ganz ruhig auf Sören ein: „Ich würde gerne von Euch lernen. Ich möchte erfahren, wie Ihr aktuell lebt und arbeitet? In unseren Geschichtsbüchern steht, dass Ihr ständig überarbeitet wart in dieser Zeit? Du aber trinkst nur und scheinst gar nicht zu arbeiten?“
Der frisch aufgetaute Andreas bleibt hingegen laut und poltert: „Veranstaltungstypen müssen trinkfest sein, Mädel. Kann ich auch ein Glas bekommen? Sag mal Alter, können wir nicht noch ein paar Hostessen einladen?“
Sören schaut immer noch völlig verwirrt von Miyu zu Andreas und zurück. „Das muss der Alkohol sein“, denkt er, „ich halluziniere“. Er sammelt sich kurz und versucht dann, den beiden Halluzinationen so nüchtern, wie das mit seinem Pegel geht, die Situation zu erklären: „Wir haben hier aktuell kein Geschäft. Eine Pandemie ist ausgebrochen und alle Veranstaltungen und Messen sind verboten. All unsere Aufträge sind futsch. Es gibt nur noch ein paar Online-Veranstaltungen, aber die Unternehmen wollen dafür nicht so viel Geld ausgeben. Ohne Geld können wir aber nicht in neue Technologie investieren. Zudem sind unsere Stundensätze nicht sehr hoch. Wir haben als Agentur ja meist an den Gewerken, also Materialien und Catering mitverdient. Versteht Ihr, was ich sage?“ Mit leicht glasigen Augen schaut er die beiden an und wäre nicht überrascht, wenn sie sich in Luft auflösen.
Doch Miyu ist hellwach und sehr präsent: „Verstehe. Eigentlich bin ich ja wegen etwas anderem hier, aber vielleicht können wir ja gemeinsam überlegen, wie man das Geschäft neu aufbauen kann. Was macht denn Deine Leistung aus? Warum bezahlen Dich die Kunden und was gibst Du ihnen, das sie ohne Dich nicht kriegen können?“
Andreas schenkt sich gerade das zweite Glas Gin ein: „Kurze Frage. Bist Du Hostess? Wieso redest Du denn so viel Zeug übers Geschäft? Du bist doch eine Frau.“
Jetzt ist auch Sören wieder voll da: „Ich weiß nicht, aus welcher Zeit Du kommst, Mann. Aber es ist heute völlig normal, dass Frauen übers Geschäft reden.“ Seine Augen bleiben dabei auf die Zukunftsreisende fixiert. „Danke, Miyu, für Deine Unterstützung. Ich würde sehr gerne mit Dir weiterdenken und von der Zukunft lernen. Bislang bezahlen uns die Kunden, dass wir einzigartige Erlebnisse schaffen. Wir machen austauschbare Dienstleistungen und Produkte erlebbar, erklären und kommunizieren sie verständlich und schaffen bei den Konsument:innen eine Erinnerung, die bleibt.“
"Und das geht alles nur, wenn sich die Leute persönlich sehen?"
Miyu ist sofort in ihrem Kreativmodus: „Und das geht alles nur, wenn sich die Leute persönlich sehen?“ Andreas ist bereits beim dritten Glas: „Was ist das denn für eine blöde Frage.“ Seine Stimme bricht leicht und wird lauter: „Natürlich geht das nur, wenn man sich persönlich trifft. Wir sind doch alle soziale Wesen und wollen uns sehen, anfassen. Flirtest Du etwa mit einem Computer?“
Sören ist genervt von Andreas, versucht ihn jetzt aber zu ignorieren und spricht weiter mit Miyu: „Nun ja, wir haben es halt schon immer so gemacht. Unsere Agentur kann nichts anderes. Wir sind alle Eventmanager:innen aus Leidenschaft. Außerdem ist es doch auch schön, Menschen in echt zu begegnen. Und fürs Marketing in Unternehmen unverzichtbar. In einem Markt voll austauschbarer Produkte und Dienstleistungen werden Unternehmen auf Events oder Messen menschlich und nahbar und ihre Produkte erlebbar. Das ist aus unserer Sicht der einzige Weg, den voll gemüllten Werbe- und Onlinekanälen zu entfliehen. Indem du als Unternehmen persönliche Beziehungen aufbaust zu deinen Zielgruppen. Und das geht nun einmal am besten, wenn man sich auch persönlich trifft. Ach, dieser vedammte Virus … “ Man merkt Sören an, wie schlimm die Situation für ihn ist. Andreas ist nach dem vierten Glas leicht eingenickt.
Miyu spürt Sörens Verzweiflung und versucht, seinen Fokus zu verändern: „Hm, mir fällt es schwer, eine Lösung für hier und jetzt zu sehen. Aber ich kann dir ein paar Dinge aus meiner Zeit, also aus deiner Zukunft erzählen. Vielleicht bringt dich das auf neue Gedanken.“ Sie wartet kurz, und fährt dann fort: „In meiner Zeit, also im Jahr 2070, investieren die Menschen kaum mehr Reisezeit aus geschäftlichen Gründen. Wenn sie reisen, dann privat und mit viel Zeit. Denn wir mussten irgendwann ökologisch reisen, um zu überleben, und das kostet Zeit. Sie wollen lieber Wissen anhäufen und ihre Kreativität fördern. Alles andere können ohnehin längst KI und Roboter erledigen. Für Menschen gibt es da nichts mehr zu tun.“ Sören hört aufmerksam zu und macht sich ein paar Notizen. „Wir arbeiten von überall,“ erzählt Miyu weiter. „Das Internet ist superschnell und überall kostenlos verfügbar. Viele der Büro-Silos aus der Vergangenheit sind abgerissen oder wurden zu Hotels umgebaut. So wie das da drüben.“ Miyu zeigt auf ein Bürohochhaus, das man aus Sörens Büro in einiger Entfernung sehen kann. „Unvorstellbar, wie Menschen da drin arbeiten konnten.“
Andreas zuckt kurz, macht es sich aber nur in seinem Sessel bequemer und scheint tatsächlich eingeschlafen zu sein.
"Covid19 war nicht die letzte Pandemie."
Miyu spricht weiter: „Wir haben viel aus den Pandemien gelernt.“ Sören erschrickt: „Sagtest du Pandemien? Mehrzahl?“ – „Ja, Covid19 war nicht die letzte Pandemie. Danach kamen noch zwei. Die Viren waren von derselben Sorte, also SARS-Ursprung. Mutationen, haben sie gesagt. Nicht ganz so schlimm wie Corona, aber in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen ähnlich. Zumindest haben wir viel daraus gelernt. Persönliche Kontakte im Business zum Beispiel, also Menschen, die wir in echt treffen, erleben wir nur noch in kleineren Gruppen. Durchaus international. Dafür reisen wir auch mal. Aber es sind eben nie mehr als zehn oder zwanzig Menschen, die sich treffen. Wozu auch? Alle größeren Events, Konzerte, Theater passieren heute in unseren interaktiven Holo-Theatern“ – „Holo-WAS?“ – „Holotheater. Komplexe Sache. Aber absolut genial. Das macht so Spaß!“ Sie tanzt beschwingt durch den Raum.
Sören muss erst einmal durchschnaufen. Noch zwei Pandemien. Ernsthaft? Sollte der alte Gates doch recht behalten haben. Krass, Alter. Wie krass …aber wie soll ich das überleben?
„Wann war denn die letzte Pandemie vorüber?“ fragt er Miyu vorsichtig. „Warte, da muss ich kurz nachdenken. Das ist lange her. Also aus meiner Sicht der Zeit (sie lächelt entschuldigend). Ich glaube, Anfang 2025 wurde es besser. Nachdem die WHO auf Anweisung der UN Ende 2023 endlich alle Expert:innen und Wissenschaftler:innen weltweit vernetzt hat und alle Staaten richtig Geld in die Forschung investierten, gab es dann endlich einen wirksamen Impfstoff gegen diese Virenart.“
Die amerikanische Präsidentin Harris hatte damals wohl die führende Rolle. Die soll den alten Männern so richtig Dampf gemacht haben. Sören fällt Ihr ins Wort: „Harris? Die ist doch gerade Kandidatin für die Vize-Präsidentschaft?“ – „Genau. Trump hat damals keine zweite Amtszeit bekommen. Ein gewisser Bidon oder Bidun ...“ – „Biden. Joe Biden“ – „Genau, der hat 2020 gewonnen und diese Kamala Harris, jetzt weiß ich auch den ganze Namen wieder, zur Vizepräsidentin berufen. Als Biden dann gegen Ende seiner ersten Amtszeit verstarb - Altersschwäche, kein Virus - da hat sie übernommen. Seitdem kehrte auch endlich Frieden auf der Welt ein. Sie hat sie alle zusammengebracht. China, Japan, Korea, Russland, Amerika, Europa … gemeinsam haben sie dann endlich auch die Klimakrise in den Griff bekommen. Gerade noch rechtzeitig. Greta Thunberg ist 2070 übrigens Generalsekretärin der UN. Aber ich schweife ab ...“
Sören atmet auf. Okay, 2025 ist zwar noch lange hin, trotzdem könnte er es schaffen. „Und wie überstehe ich mit meiner Agentur jetzt die nächsten Jahre bis zum Impfstoff? Du wolltest, äh wir wollten doch Ideen entwickeln.“ – „Du hast recht. Aber die Geschichte war wichtig, denn jetzt kennst du den zeitlichen Horizont und die Veränderungen, die passiert sind.“ – „Ja, das stimmt. Aber, was ist, wenn ich jetzt anders entscheide? Wenn wir jetzt durch unser Handeln etwas verändern, dann verändern wir doch alles und dann gibt es dich vielleicht nie.“
„Keine Angst!“ beruhigt ihn Miyu, „auch hier hat die Wissenschaft längst den Knoten gelöst. Eine Forscherin aus Deutschland war das. Irgendwann Anfang 2042 glaube ich. Sie ist endlich hinter das Geheimnis der Zeit gekommen. Sie war eigentlich Chemikerin. Vielleicht kennst du sie ja. Das war zu deiner Zeit. Sie heißt Mai Thi Nguyen-Kim und hat wohl auch während Covid-19 eine wichtige Rolle gespielt. Anyway. Für die Entschlüsselung der Zeit hat sie auf jeden Fall 2045 den Nobelpreis in Physik erhalten.
"Die Zeit verläuft für jede:n anders. Du kannst deine gestalten, wie du magst."
„Und was ist jetzt mit der Zeit?“ hakt Sören leicht ungeduldig nach. „Sie ist relativ,“ erklärt Miyu, „das wusste ja schon Einstein. Vereinfacht gesagt, Zeit verläuft für jede:n anders. Parallel. Du kannst deine so gestalten, wie du magst. Auf meine Zeit hat das keinen Einfluss.“ In Sörens Kopf dreht sich nun endgültig alles. Im selben Augenblick fällt Andreas lautstark von seinem Sessel, lallt irgendetwas von „Orgie, Drogen… Ist noch Gin da …“, daraufhin schläft er wieder ein. Sören und Miyu schauen sich an und lachen beide herzlich.
Dann holt Miyu eine kleine Kugel aus ihrer Tasche, wischt mit der Hand kurz darüber und es entfaltet sich ein durchsichtiger Screen.
„Also, Sören, dann erzähl doch noch mal, wie das bei euch heute so läuft bzw. gelaufen ist. Warum genau gibt es Messen und Events? Was machen die Menschen da genau? Was kostet das alles? Wer bezahlt das alles? Und was ist denn überhaupt die gewünschte Wirkung?“
Sören erklärt sehr ausführlich und lange. Von gewachsenen Strukturen, bräsigen und in die Jahre gekommenen Leitmessen, globalem Wettbewerb, Billig-Anbietern aus dem Osten, unbeweglichen Messegesellschaften, eingefahrenen Prozessen, dem von Jahr zu Jahr zunehmenden Druck auf der Kostenseite und der immer mächtigeren Konkurrenz der Online-Plattformen auf seine Branche. „OK, verstanden!“ sagt Miyu, „klingt ganz schön kompliziert und verfahren. Sag mal, hat das denn alles den Beteiligten am Ende noch Spaß gemacht?“ Sörens „Nein!“ kommt etwas zu schnell. „Das war schon vor der Pandemie mehr Stress als Freude. Und jetzt wollen alle diese langweiligen digitalen Lösungen. Aber das macht noch weniger Spaß. Alle starren in Bildschirme, auf denen nichts passiert. Und die Wirkung ist nur noch Frust auf allen Seiten.“
"Was wäre, wenn wir noch einmal bei Null anfangen?"
Miyus Augen fangen jetzt an zu funkeln. „Versteh mich nicht falsch, aber ich liebe solche Herausforderungen.“ Und mit fast bebender Stimme fährt sie fort: „Was wäre denn, wenn wir einfach noch einmal bei Null anfangen. Also - wie sagt Ihr so treffend dazu? Das habe ich in alten Büchern gelesen: auf der grünen Wiese?“
Sören lacht zum ersten Mal ein wenig. „Ja, so sagen wir gerne. Aber die wenigsten trauen sich, das auch zu tun. Die Strukturen …“ – „Na dann los!“ unterbricht ihn Miyu, die jetzt richtig in Fahrt kommt, „Alles auf Anfang! Du weißt ja jetzt, dass in der Zukunft alles möglich ist. Du brauchst nur eine Idee. Fangen wir doch mal am Ende an. Was genau wünschen sich deine Kund:innen? Also so wirklich jetzt? Was soll in einer perfekten Welt hinterher anders sein?“
…
An dieser Stelle unterbrechen wir unsere kleine Erzählung und möchten euch auffordern, weiter zu denken, zu gestalten und zu schreiben. Beginnt doch vielleicht genau mit der letzten Frage:
Was wollen und brauchen eure Kund:innen wirklich?
Und dann schlüpft in die Rollen von Miyu und Sören und spinnt drauf los. Was ist zu tun? Wo geht die Reise hin? Was entwickelt Ihr für eure Kund:innen für die nächsten Jahre? Bleibt das Wachstum der wichtigste Treiber? Zündet die Klimawandel-Konjunktur? Veranstaltet Ihr für eure Kund:innen Ideencamps mit Fridays for Future oder entwickelt mit ihnen ganz neue Co-Working-Inkubatoren für Neue Arbeit?
Los geht’s, nehmt die Vorlage aus der Zukunft und verwandelt sie in etwas wirklich Neues. Auf der grünen Wiese unbegrenzter Möglichkeiten …
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Diese Geschichte entstand aus einem einwöchigen Ideenaustausch zwischen Michaela Sulz, Florian Städtler und mir im August 2020. Sie ist zuerst unter der Überschrift "Alles auf Anfang" auf dem LinkedIn-Profil von Florian erschienen und wurde von mir - aufgrund der aktuellen Geschehnisse in den USA - für unser Magazin leicht überarbeitet. So schnell werden fiktive Geschichten zur Realität. Wie auch immer. Das Ende der Geschichte haben wir bewusst offen gelassen. Weil wir davon ausgehen, dass es für die Gestaltung der Zukunft der Kommunikationsbranche (und aller anderen Branchen) keine Patentrezepte geben kann. Stattdessen hoffen wir - ganz im Sinne des berühmten Zitates von Willy Brandt - auf einen Ideenwettbewerb der Zukunfstgestalter:innen in Form ganz vieler „Schwarmschreibenden“, die unsere Geschichte weiterschreiben.
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