Lasst die Zielgruppen frei!

Ein Plädoyer für mehr Wertschätzung in der Markenkommunikation.

Wenn ich diesen Artikel mit der Behauptung beginne, dass Kommunikation eine der entscheidenden Kompetenzen unserer Zeit ist, wird mir vermutlich niemand widersprechen. Und Bumms. Schon knallen wir gegen die erste Hürde. Niemand lehrt uns Menschen den richtigen Umgang mit Kommunikation. Wir kommunizieren einfach.

Alles beginnt mit dem ersten noch unbewussten Schrei, der uns Liebe und im besten Fall Essen beschert. Da hat sich Mutter Natur was tolles ausgedacht. Funktioniert bestens. Bis … ja bis das mit der Sprache beginnt. „Dutzi dutzi“ hören wir ständig und gurren belustigt zurück. Um es kurz zu machen: Viel ändert sich daran nicht mehr im Verlauf unseres weiteren Lebens. Wir schreien und die Umwelt reagiert. Wir gurren und die Reaktion ist eine andere. Wir bemühen uns ja redlich, aber es bleibt kompliziert. Oft genug endet unser Bemühen mit Frust, Streit und Mißverständnissen.

Der große George Bernard Shaw beschrieb dieses Dilemma einst etwas poetischer. „Das größte Problem an der Kommunikation ist die Illusion, sie hätte statt gefunden“.

 

Machen wir nach dieser - zugegeben etwas launigen - Einleitung einen mutigen Sprung in die „professionelle“ Kommunikation zwischen Unternehmen und ihren Märkten. Auch hier wird mir niemand widersprechen, wenn ich behaupte, dass - heute mehr denn je - Kommunikation ein Schlüsselfaktor wirtschaftlichen Erfolges ist. Das beste Produkt wird in den Lagern verrotten, wenn keiner davon erfährt. Also wird kommuniziert, was das Zeug hält. Doch ganz so einfach ist es nicht. Bestand zwischen dem Säugling und den Eltern noch eine klare Sender-Empfänger-Zuordnung sowie das berühmte Urvertrauen, fehlt beides in der Werbung gänzlich. Ein beliebiges Produkt trifft auf unendlich viele Empfänger*innen.

Zielgruppen: „Frauen auf Partnersuche“ & „Männern über 60“

 

Die Urväter und -mütter der Werbung erkannten dieses Dilemma recht schnell und ihre Lösung erschien zunächst logisch. Sie sortierten den riesigen Klumpen „Gesamtbevölkerung“ einfach nach vordergründigen und leicht erkennbaren Merkmalen. Dann sperrten sie diese „Grüppchen“ in kleine Räume und nannten sie „Zielgruppen“. Und so saßen plötzlich alle „Frauen auf Partnersuche“, alle „Männer über 60“ und alle „Kinder aus Großstädten mit höherem Schulabschluss“ zusammen in je einem kleinen Raum und wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Im Laufe der Zeit wurden aus diesen Teilgruppen dann sogar ganze Generationen. X, Y, Z ... Silver Surfer, Golden Ager ... you name it. Alle eingesperrt und zur „Zielgruppen"-Beschallung freigegeben. Doch es kam noch schlimmer.

Kaum hatten sich die Menschen in den Zielgruppen-Gefängnissen an die flackernde Neonleuchte an der Decke gewöhnt, da ging das Geschrei auch schon los. Es kam aus einem versteckten Lautsprecher im Raum. „Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single über Parship“, „Weniger müssen müssen!“, „Günstige Hotels weltweit buchen, jetzt auf deinem Smartphone“ und immer wieder ultralaut „JETZT KAUFEN! NUR FÜR KURZE ZEIT!“. Dazu flackerten wilde Irrlichter und grelle Bilder über die Wände. Den ganzen Tag ging das so. Und die ganze Nacht. Laut, eintönig und penetrant. Es gab kein Entkommen.

Klingt nach Orwell? Stephen King? Dabei ist es nur das, was wir heute immer noch als „Werbung“ bezeichnen. Viel hat sich nämlich nicht verändert seit den Anfängen. Es wurde lediglich immer mehr. Waren es früher nur bunte Bilder, die „geschrien“ haben, kamen mit der Zeit das Radio, das Kino, der Fernseher, der Computer, das Internet und zuletzt noch diese perfiden kleinen Mobilgeräte dazu. Die Botschaften blieben dabei immer dieselben. Geklont auf jede erdenkliche Art, auf allen erdenklichen Kanälen. Immer lauter einhämmernd auf die hilflos eingepferchten Zielgruppen.

So blöd kann ja nun wirklich niemand sein …

 

Immer mal wieder wehrten sie sich. Nach Kräften. Doch kaum hatten sie ein Gerät blockiert, kam ein neues dazu. Denn auf Seiten der Schreihälse gab es weder Erkenntnis noch Erbarmen. „Wir kennen doch diese verdammten Zielgruppen. Die lieben unsere Produkte. Man muss es ihnen nur oft genug sagen. Sie sehen doch, wie der Umsatz steigt!“ In der Tat geben die Verkaufszahlen und Klickraten den Schreihälsen oft Recht. Auch wenn sie natürlich verschweigen, dass sie an den völlig falschen Stellen messen. Aber das ist eine ganz andere - nicht minder grausame - Geschichte.

Schweißgebadet wache ich auf. Gott sei Dank, ich habe nur geträumt. Erleichtert wische ich mir über die Stirn. Wie albern, denke ich. Ich meine, so blöd kann ja nun wirklich niemand sein. Zumindest niemand, der die guten Schulen besucht, Kommunikation oder Marketing studiert hat und weiß, dass man Menschen nicht mit eintönigem Geschrei erreicht. Schon gar nicht, wenn man sie vorher eingesperrt hat. Das wäre ja Folter im Sinne der Genfer Konventionen und somit ein Fall für Den Haag. Das wäre ja so, als würden Ärzte den menschlichen Körper in Einzelteile trennen, jedes davon völlig isoliert betrachten und behandeln, wohl wissend, dass der Mensch ein Gesamtorganismus ist. Halt, warte… schlechter Vergleich. Das tun die ja auch.

Könnt Ihr mir überhaupt folgen? Versteht Ihr, was ich sagen will?

 

OK, nochmal ganz einfach: Menschen sind sehr komplexe und individuell höchst unterschiedliche Wesen. Kein Mensch passt in nur eine „Zielgruppe". Und Menschen (re)agieren nur dann, wenn ihnen etwas wirklich wichtig und wertvoll ist. NUR dann. Fangt doch mal bei Euch selbst an. Was ist das wertvollste, das Ihr besitzt? Lasst mich raten, es ist nicht Euer Auto oder Euer Smartphone. Mit welchen Menschen würdet Ihr gerne einen Abend verbringen? Doch wohl am ehesten - abgesehen von irgendwelchen Promis - mit Menschen, die Eure Werte und Interessen teilen. Also Menschen, die auch einen Hund haben, sich ebenfalls vegan ernähren, Ähnliches erlebt haben, dieselbe Musik lieben, ähnliche Bücher lesen oder - etwas trauriger - unter der gleichen Krankheit leiden wie Ihr. Richtig?

Wir haben 2014 (damals noch als pro event) einen Versuch gemacht und genau solche Fragen auf einer Website veröffentlicht. Nach einiger Zeit haben wir die dort anonym gegebenen Antworten in einem kleinen - von unserer Art Direktorin Ann-Marie zauberhaft gestalteten - Booklet zusammen gestellt. Wenn Ihr Lust habt, da mal rein zu schauen, schreibt uns einfach eine Mail mit Eurer postalischen Adresse an magazin@ottomisu.com und wir schicken Euch ein Exemplar zu.

 

Wie auch immer. Solltet Ihr wirklich - was ich nicht glaube - noch nie auf die Idee gekommen sein, Eure Kunden nach mehr als ihrer Mailadresse, ihrer Kleidergröße oder ihrer Position im Unternehmen zu befragen? Wenn Ihr sie stattdessen - was ich nicht glaube - jeden Tag auf allen Kanälen mit dumpfen „Kauf mich“-Botschaften bewerft, weil Ihr glaubt „alle in einen Sack und drauf, es wird schon die richtigen treffen“. Wenn ... aber Freunde, wirklich nur dann, schaut Euch das Video am Ende des Textes an.

Schaut ihn euch vielleicht auch zweimal an. Und immer mal wieder. Schöner kann man nicht erklären, was ich meine. Und wenn ihr auch ein kleines bisschen Gänsehaut habt oder euch zumindest ein heimliches Tränchen aus dem Augenwinkel entweicht, dann ist es noch nicht zu spät. Dann lasst uns endlich anfangen, wieder WERTvoll mit Menschen zu kommunizieren. Lasst uns dabei an sich ständig verändernde WERTEgemeinschaften denken, nicht an eingesperrte Zielgruppen. Und lasst uns vor allem nicht (nur) über Produkte sondern über WERTE reden. Zuallererst mal über unsere eigenen. Und dann lasst Euch überraschen, wie viele Herzen uns zufliegen.

Jede Wertschöpfung basiert auf Wertschätzung

 

Das Schönste daran. Ein gewonnenes Herz bleibt viel länger als ein erzwungener oder herbei geschriener „Kunde“. Und um Missverständnisse zu vermeiden. Es geht mir nicht um Ringelpiez und rosa Wölkchen. Ich bin einfach zutiefst davon überzeugt, dass - heute mehr denn je - jede Wertschöpfung auf Wertschätzung basiert. Geld verdienen sollte immer die Folge dessen sein, was Unternehmen tun, niemals das Ziel. Dann klappt's auch mit den Beziehungen zwischen Unternehmen und ihren Märkten. Ihr wisst schon: Die Sache mit der #Connectivity.

Dieser Artikel erschien in einer ersten Fassung bereits in 2017 auf dem lesenswerten Blog meines geschätzten Freundes Christopher Cuhls.

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